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ADHS: Modediagnose oder endlich sichtbar?

Früher galt: ADHS betrifft nur Knaben. Heute wissen wir: ADHS wächst nicht aus – sie begleitet auch erwachsene Männer UND Frauen. Sind die vielen ADHS-Diagnosen trotzdem nur ein medialer Hype oder bringen diese echte Entlastung für Betroffene? Im Beitrag gehe ich dieser Frage nach und berichte von meiner persönlichen Erfahrung.

«Heute hat ja jeder ADHS» oder: «Ich habe auch ein wenig ADHS». Solche oder ähnliche Sätze höre ich oft in meinem Alltag. Auch in den Medien wird viel über die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) berichtet. Teilweise sogar unter dem Titel «Modediagnose ADHS» oder auch: «Noch nie wurde so viel Ritalin verordnet».

Eine solch undifferenzierte Wahrnehmung macht etwas mit mir. Hier wird suggeriert, dass Betroffene sich die Diagnose fast schon aus Bequemlichkeit «abholen» oder Ärztinnen und Psychologen leichtfertig damit umgehen. Doch ist das wirklich so?

Ziemlich ausgebrannt und müde

Für mich und viele andere war die Diagnose ein langer Weg – kein spontaner Griff nach einer Modeerscheinung. Leiden, Umwege, Zweifel, Selbstrechtfertigung und viele Gespräche standen am Anfang. Eines Tages erzählte ich meinem Hausarzt von meinen Problemen. Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt ein wenig ausgebrannt und müde – dachte aber, ich sei bloss zu sensibel. Zu sensibel! Ein Erklärungsversuch, der mich schon mein ganzes Leben begleitet.

Eine Unmenge an Fragebögen

Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Hausarzt stand ein Verdacht im Raum: adulte ADHS. Sowie der Vorschlag, mich für eine Abklärung bei einem auf ADHS spezialisierten Facharzt für Psychiatrie anzumelden. Ich musste nicht lange überlegen und gab meine Einwilligung.

Bald darauf kam die E-Mail aus der Facharzt-Praxis – zusammen mit einer Unmenge an Fragebögen, die meine Ehefrau und ich beantworten mussten. Die dafür notwendige Reflexion war für mich ein grosser Kraftakt.

Parallel dazu begann ich eine Psychotherapie, um die gröbsten Leiden, wie Ausgebranntsein und Alltagsfrust, anzugehen. Bereits nach wenigen Sitzungen stand auch in der Therapie der Verdacht auf ADHS im Fokus. Wir entschieden uns, die Gesprächstherapie zu beenden, um die Diagnose abzuwarten.

Lange Wartezeit

Mehr als ein halbes Jahr dauerte die Wartezeit bis zur klinischen Abklärung beim Psychiater. Aus persönlichen Gesprächen und aus den Medien weiss ich, dass es zahlreiche Menschen gibt, die noch länger auf einen Abklärungstermin warten.

Für mich hat sich das lange Warten gelohnt: Ich hatte das Glück, von einer Koryphäe in Sachen ADHS abgeklärt zu werden. In rund 30 Jahren hat dieser Psychiater bereits mehr als 3000 ADHS-Abklärungen vorgenommen. Er wusste also genau, worauf er bei diesem umfangreichen Prozedere achten musste.

Zu sehen ist ein selbst gemaltes Bild mit Bergen, einem Bergsee und einer Frau mit Ziege.
ADHS ist bei weitem mehr als eine Diagnose für «Zappelphilipp»-Knaben.

Grosse Erleichterung

Für diese kompetente Abklärung bin ich unendlich dankbar – sie gibt mir Sicherheit. Die Diagnose lautete auf «kombiniertes ADHS, hochgradig ausgeprägt». So seltsam das nun tönt: Das Resultat war für mich eine grosse Erleichterung.

Endlich wusste ich, wieso in meinem bisherigen Leben nichts so lief, wie es von der Gesellschaft und dem Umfeld erwartet worden war. Jetzt konnte das Einordnen in meinem Alltag beginnen. Wer ADHS hat, weiss: Es geht nicht um ein Etikett, sondern um Verständnis für das eigene Funktionieren.

Wahrnehmung sorgt für Aufklärung …

Ich behaupte mal: Ohne die Aufmerksamkeit, die ADHS heute in der öffentlichen Wahrnehmung hat, würde ich wahrscheinlich weiter leiden und hätte keine gesicherte Diagnose in den Händen. Alleine wäre ich nie auf ADHS als Ursache und Erklärung meiner komplexen Verhaltensweisen gekommen. Denn auch ich unterlag dem Trugschluss, dass diese Diagnose nur bei «Zappelphilipp»-Knaben im Kindesalter gestellt wird.

Dadurch, dass ADHS endlich breit thematisiert wird, hat sich das Bild stark verändert. Heute wird endlich auch über Erwachsene sowie über Mädchen und Frauen mit ADHS gesprochen. Zahlreiche Influencer, Bücher und Podcasts tragen dazu bei, dass mehr Menschen sich wiederfinden und erkennen, was hinter ihrem Wesen steckt.

… aber auch für Stigma

Doch die Kehrseite ist: Mit der wachsenden Sichtbarkeit wächst auch der Vorwurf der Überdiagnose. Wenn ADHS als Modediagnose abgestempelt wird, laufen Menschen mit ADHS Gefahr, nicht mehr ernst genommen zu werden. Oder noch schlimmer: sich nicht mehr abklären zu lassen.

Wenn wir berücksichtigen, wie zahlreich die Komorbiditäten bei ADHS sind, wäre das fahrlässig und kostentreibend. Die Gesundheitskosten wären um einiges höher, als die Kosten einer seriösen ADHS-Abklärung mit anschliessender Behandlung. Die Balance zwischen Aufklärung und Clickbaiting-Medienberichten (z. B. über zunehmende Ritalin-Verschreibungen und «Modediagnose») muss noch gefunden werden.

Sichtbarkeit ist wichtig

Trotzdem überwiegt für mich die positive Seite. Dass die Thematik ADHS insgesamt sichtbarer wird, hat mir und vielen anderen geholfen, ein Stück Klarheit und Selbstakzeptanz zu gewinnen. Ja, es gibt Hypes und Schlagzeilen – aber die Realität im Alltag bleibt: ADHS ist kein Trend, sondern Teil meines Lebens.

Dank einer seriösen Abklärung habe ich nun die Möglichkeit, einen gesunden Umgang mit meiner ADHS zu lernen. Ausserdem weiss ich endlich, dass ich trotz meiner queren Denkmuster kein Alien bin, das sich in der Galaxie verfahren hat. 👽

Schreiben hält mich im Gleichgewicht – und hilft mir, mein ADHS besser zu verstehen. Wenn dir meine Texte gefallen, unterstütze mich gern auf Ko-fi. Jeder Kaffee zählt. ☕️

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